Vorwort

Bei Hunger handelt es sich um eine der ersten Kurzgeschichten, die im Allianz-Universum spielt. Sie spielt dabei recht früh in der Zeitlinie, zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Menschheit zum erstem mal auf die große Reise zu fremden Welten wagen könnte. Die Antriebe sind konventionell, was die Reise sehr lang macht. Generell ist auf dem Generationenschiff hauptsächlich konventionelle Technologie verbaut. Bei bewährter Technik kennt man eventuelle Fehlstellen und kann sie reparieren. Eine Grundvoraussetzung, in einer völlig isolierten Umgebung.
Hunger ist eine der Geschichten, die ich für am ausgereiftesten halte.


Hunger

Das schrille Kreischen des Weckers riss sie viel zu früh aus einem traumlosen Schlaf. Ihre Kabine war abgekühlt und sie fror unter der dünnen Bettdecke. An Morgenden wie diesem vermisste sie ihre dicke Daunendecke, die sie hatte zurücklassen müssen. Mit diesem dünnen Lappen Stoff machte es einfach keinen Spaß, sich noch einmal um zu drehen und sich ein zu wickeln. Er würde sie auch nicht weiter aufwärmen.

Widerwillig kroch sie aus dem Bett, wühlte sich mit dem Arm die zerzauste Haarpracht aus dem Gesicht und griff nach dem Zopfgummi auf dem Nachttisch bevor sie in die Nasszelle schlich. Das heiße Wasser wusch den klebrigen Schweiß der Nacht von Marissas Körper. Sie spürte förmlich, wie der Schlaf aus ihren Augen gewaschen wurde und ihre Haut sich straffte. Vom Wasser voll gesogen flossen ihre blonden Locken wie ein quirliger Wasserfall über ihren Oberkörper. Dicke Dampfschwaden waberten durch den Raum, schlugen sich als glitzernder Tau auf den glatten Wänden nieder. Lediglich der Spiegel blieb klar. Aus ihm blickte ihr eine gerade einmal dreißig jährige, schlanke Frau entgegen. Sie war hoch gewachsen und sehr sportlich. Ihre Arme und Beine waren durch tägliche, schwere Arbeit gestählt, genau wie ihre Schultern und der Rücken. Trotzdem war sie sehr schmal und bewegte sich elegant, fließend.

Gähnend und ihre Augen reibend stieg sie aus der Dusche. Ihre Haare, frisch befreit vom Gewicht des nach fließenden Wassers, zogen sich sofort hoch und bildeten eine wilde Mähne. Marissa blickte kurz auf ihr Spiegelbild, legte den Kopf schief und schüttelte den Kopf, dass die Tropfen bis zur Decke flogen. Heute hatte sie keine Zeit für einen ausgedehnten Kampf mit dieser Lockenpracht. Sie griff nach dem Zopfgummi und band sich eine straffe Knotenfrisur. Für heute musste das genügen. Die Klimaanlage gab sich Mühe, die verbliebenen Tropfen von ihrem Körper zu pusten, sie half mit einem Handtuch nur noch etwas nach.

Mit routinierten Bewegungen trug sie die spärliche Morgenkosmetik auf. Deodorant, ein dunkler Lidstrich und etwas Wimperntusche. Nicht zu viel, lediglich genug um ihre Augen dezent zu betonen. Den größten Teil hatte die Natur schon erledigt indem sie ihr ein hübsches Gesicht mit vollen, rosigen Lippen, Stupsnase und feinen Sommersprossen verliehen hatte. Marissa selbst empfand sich nicht als besonders hübsch, konnte aber ganz gut mit sich leben.


Wenig später verließ sie ihr Schlafzimmer, gekleidet in eine schlichte, eng anliegende, schwarze Uniformhose, einem Nuss-braunen Top und schwarzem Nadelstreifen Blaser. An der Küchenzeile nahm sie ihre Tasse heißen Tees in Empfang, gemeinsam mit einem belegten Brötchen von gestern Abend. Auf dem Beistelltisch neben der Kabinentür lagen einige Displays. Sie blätterte die Folien flüchtig durch, warf einen Blick auf die an die Wand projizierte Tageszeitung und stellte erschrocken fest, dass sie spät dran war. Die Tasse und das Brötchen noch in der Hand verließ sie ihre Kabine.

Verträumt auf dem Brötchen kauend ging sie den schlichten Flur entlang bis sie auf der zweiten Ebene der Allee auskam. Die Allee war ein breiter, drei Etagen hoher Korridor, der den Rumpf des Schiffs einmal der Länge nach durchzog. Die untere Ebene war abschnittsweise für kleine Geschäfte, Bars und Restaurants reserviert. Hier fand das gesellschaftliche Leben des Schiffes statt, zu jeder Tageszeit. In der zweiten und dritten Ebene verbreiterte sich die Allee jeweils um einen Balkon auf jeder Seite. Dahinter lagen Büroräume und die Zugänge zu diversen Wohnkorridoren. Die Treppen, Brücken und Balkone der Allee waren die Laufstege dieser kleinen Welt. Hier ging hin wer sehen oder gesehen werden wollte. Wer nicht gleich gesehen werden wollte, versteckte sich lieber im Park. Als Park bezeichneten die Leute die verteilten Bäume, Pflanzenkübel und kleine Grasflächen, die der Allee eine grüne Note gaben.

Marissas Weg führte vorbei an dieser Oase, hin zu einer anderen. Einige Etagen unter dem hinteren Ende der Allee waren die hydroponischen Gärten des Schiffs verborgen. Hier wuchsen 75% der Nahrungsmittel, die an Bord gegessen wurden. Die restlichen 25% entstammten den Aquakulturen in den Tanks der Abwasseraufbereitungsanlage. Eine Tatsache, die von der Verwaltung und den beteiligten Arbeitern bestens geheim gehalten wurde. Um so imposanter leuchteten für Marissa die hydroponischen Gärten selbst. In schier endlosen Regalreihen reiften hier Tag für Tag Obst, Gemüse und Getreide auf künstlichem, wässrigen Nährboden heran. Andere Nutzpflanzen, wie zum Beispiel Hanf, hatten ihren eigenen Garten, im Bug des Schiffs. Er war nicht annähernd so groß wie dieser, aber er erfüllte seinen Zweck.

Sie schritt die Regale ab. Das Brötchen hatte sie aufgegessen und die Tasse gegen eine Registerliste ausgetauscht. Skeptische Falten legten sich auf ihre Stirn. Sie würde eine neue Untersuchung der Nährlösung anordnen, schon wieder. Die letzten sieben Tage hatte sie nun schon die Mischung variiert aber die Produktivität der Gärten sank seit Wochen stetig. Irgend etwas stimmte nicht. Sie konnte weder Schädlingsbefall noch Krankheiten entdecken, nur die Früchte wuchsen kaum noch.

Um den Bedarf des Tages decken zu können, würden sie erneut auf die Kühlreserven zurück greifen müssen. Besorgt blickte sie auf die Inventur. Das Lager war selten wirklich voll gewesen, so leer wie in den letzten Tagen war es aber seit dem Start nicht gewesen. Zum ersten mal in ihrem Leben an Bord, erinnerte sie sich an einer Art Schiffslegende. Auf dem Ausleger am Rücken des Schiffs, in den aufgesetzten Frachtcontainern, lagerten angeblich militärische Notrationen für den Ernstfall. Sie lagen in den ganzen dreißig Jahren der Reise tief gefroren und ohne Atmosphäre, nur dem Klima des Weltalls ausgeliefert. Was da dran war wusste sie nicht. Niemand an Bord wusste so genau, was sich in den Containern befand. Sie waren für die Zeit nach der Landung bestimmt und nicht für die Reise.

Dreißig Jahre. Die ganze Zeit über hatten sie es ohne Rationierung und Notreserven geschafft. Jetzt, so kurz vor ihrem Ziel, sollten sie sich diese Statistik verderben? Nicht wenn sie es verhindern konnte, und wenn sie die Analyse der Nährlösung persönlich vor nahm. In einem halben Jahr würden sie ihr Zielsystem erreicht haben, in einem Jahr (wenn alles planmäßig verlief) wollten sie die Landung einleiten. Danach könnten sie Äcker außerhalb der Kolonie anlegen um die Versorgung auf zu stocken. So lange mussten sie noch durchhalten. Nur noch einen so ewig währenden Augenblick.

Sie schloss die Augen und seufzte. Was auch immer mit der Nährlösung nicht stimmte, sie würde überprüfen müssen, ob dort an der Außenhülle tatsächlich Container voller Notrationen hingen. Und selbst wenn, war nicht gesagt, dass sie die Jahre der galaktischen Kälte unbeschadet überstanden hatten. Welch ein grandioser Start in den Tag. Sie rieb sich die Augen, fühlte sich ausgelaugt und verbraucht. Sie rieb erneut über ihre Augen, welche nervös juckten, aber es schien nichts helfen zu wollen.

Und irgend etwas war tatsächlich anders. Sie fühlte es ganz genau, konnte es nur nicht bestimmen. Die Schatten beunruhigten sie und sie suchte alles ab, um zu ergründen, was anders war. Eine permanente Bewegung um Augenwinkel. Sehr schwach, und kaum versuchte sie Sie zu finden, war sie fort. Es war, wie wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt, man es aber nicht aussprechen kann. Eine Idee hatte sie trotzdem noch. Im Bemühen, auch das Unmögliche aus zu schließen, kniff sie die Augen zusammen und starrte auf die Umrisse der Schatten auf der glatten Wand. Der Sekundenzeiger lief laut tickend seine Runden.

Ein eintretender Chemiker fand sie, wie sie verwirrt und völlig in Gedanken versunken Richtung Decke starrte.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ fragte er vorsichtig.

„Haben Sie jemals einen Gedanken an unsere Beleuchtung verschwendet?“ entgegnete sie.

Er wirkte verwirrt. „Nein, wieso hätte ich das tun sollen?“

Er hatte keine Ahnung worauf sie hinaus wollte, und sie war sich nicht sicher, ob sie es selbst überhaupt wusste.

„Fünfundzwanzig Jahre, sogar noch länger, und ich kann mich nicht ein einziges Mal daran erinnern, dass eine Lampe von alleine kaputt gegangen wäre. Es hat mich Stunden gekostet, darauf zu kommen.“ Sie zerrieb abwesend ein Blatt zwischen ihren Fingern und roch an ihnen. Thymian. Langsam drang die Tatsache zu ihr durch, dass sie Besuch hatte. Sie richtete sich auf. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich komme aus dem Lebensmittellabor. Es geht um eine Paprikaprobe, die wir untersucht haben. Ihr Brennwert und die Nährstoffwerte sind weit unter Normal. Tut mir leid aber wir müssen die Nährlösung untersuchen.“

Sie rieb sich die Stirn und nickte. Das Problem war weitreichender und fortgeschrittener, als sie es zunächst vermutet hatte. Gut möglich, dass es nicht nur an der Nährlösung lag, die hatte sie bereits ohne Ergebnis untersucht.

„Der Geschmack scheint normal zu sein.“ sagte sie halblaut in den Raum hinein. „Aber wenn sie nicht nur kleiner werden, sondern zusätzlich zu bunten Wasserbeuteln verkümmern, dann haben wir ein Problem. Würden Sie mir kurz zur Hand gehen? Ich war gerade dabei, einige Proben vor zu bereiten. Sie können sie dann gleich mit hinauf nehmen.“

Und noch während sie die Proben der Nährlösung abfüllten, war ihre Ahnung von vor dem Gespräch von einem wohligem Rauschen und dem Gedanke an die Container am Frachtausleger verdrängt worden.


Nachdem der Chemiker die Farm mitsamt der Proben verlassen hatte, verschwand Marissa in Richtung des Hangars. Sie wollte eine Biene starten, jene kleinen, gelb lackierten Wartungskabinen, mit denen man die Außenseite des Schiffs in Augenschein nehmen konnte. Sie waren die einzige Möglichkeit, um an die Container am Ausleger zu kommen. Wahrscheinlich waren sie mit Gütern und Baumaterial bestückt, die für den Aufbau der Kolonie nach der Landung vorgesehen waren. Dementsprechend mussten sie auch nicht aus dem Inneren heraus erreichbar sein. Marissa hatte eine Liste gefunden, auf der grob die Fracht und Position verzeichnet waren.

Den Umgang mit den Bienen lernte Jeder an Bord. Er war fester Bestandteil der Rettungsprogramme und Notfallreparaturen wurden gemeinsam mit Brandbekämpfung, Umgang mit chemischen Unfällen und medizinischen Notfällen geprobt. Ein Training, was schon in früher Kindheit begann.

Die Hangartüren glitten zurück in ihre Verankerungen, kaum dass sie das Schiff verlassen hatte. Unter ihr glitten die dreieckigen Gitterträger vorbei, an denen die einzelnen Elemente des Schiffs verschraubt waren. Einfach auf zu lösen und beliebig erweiterbar, Modul für Modul. Nach der Landung sollten sie nach und nach aus der Struktur gelöst und zu einem Stadtzentrum angeordnet werden. So jedenfalls war es von den Planern vorgesehen. Andere, frühere Kolonien hatten ihr Schiff schlicht als Stadtzentrum behalten und nur bei Bedarf außerhalb einen Neubau errichtet. Dieser bestand zunächst oft aus alten Containern, die vergleichsweise einfach um zu bauen waren.

Eben solche Container näherten sich nun Marissas Biene. Sie waren kaum beleuchtet und hoben sich vor dem schwarzen Raum zwischen den Sternen nur als schwacher Schatten ab. Hier draußen gab es kein Sonnenlicht, dafür waren sie noch viel zu weit von ihrem Ziel entfernt. Sie schaltete die Wartungsscheinwerfer zu und die grauen Klötze mit dem stilisierten Emblem der Allianz bekamen Umrisse und Struktur. Sie waren also tatsächlich da. Ihr Puls beschleunigte sich und sie betete, die richtigen wären auch auffindbar.

Laut des Inventars, müssten sie sich ganz hinten befinden, hinter dem Antriebsschild. Laut des Inventars hatten sie aber auch sechs statt nur drei Bienen an Bord und außerdem zwei Forstroboter im Schiffsinneren, die sie selbst noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie glitt über die Frachtausleger hinweg. Die Tanks und Container erinnerten sie an Ameiseneier, die sorgfältig an einen Zweig geklebt waren. Hier hinten waren die Scheinwerfer der Biene die einzige Lichtquelle. Der Antrieb war bereits vor etlichen Jahren herunter gefahren worden. Nächsten Monat sollte das Schiff gedreht werden und der Antrieb für das Bremsmanöver vorgewärmt werden. Vorher würde sich niemand für dieses Ende des Schiffs interessieren.

Niemand außer ihr.


Im Labor steckten die Chemiker besorgt ihre Köpfe zusammen. Schweigend starrten sie auf den Bildschirm des Lebensmittellabor und beobachteten, wie langsam die Ergebnisse der gerade laufenden Tests über den Bildschirm tropften. Das kalte Licht, die surrenden Lüfter und Laborgeräte und das gespannte Schweigen sorgten für eine ausgesprochen beklommene, sterile Atmosphäre. Auf den Gesichtern der Anwesenden zeigte sich nur eine gefasste Resignation angesichts der Ergebnisse. Nur in den Augen selbst spiegelte sich die blanke Panik, angesichts dessen, was die Werte aussagten. Und das war... garnichts.

Es war alles in bester Ordnung! Gut, die Lösung war dezent überdüngt aber nicht so sehr, dass sie giftig war, also trotzdem noch fruchtbar genug. Die daraus entwachsenen Früchte wären immerhin ausreichend. Nur wären sie es gewesen, dann stünden sie jetzt nicht hier und die Zeit würde ihnen nicht durch die Finger rinnen. Entweder sie fanden das Problem, oder sie würden es nicht mal ins System schaffen. Sie hatten doch nichts übersehen, oder? Keine gravierenden Fehler gemacht, oder? Das konnte eigentlich nicht sein.


Ein schmaler Lichtkegel schob sich über die Container. Stück für Stück wurden sie abgesucht, immer weiter Richtung Heck. Die meisten waren versiegelt und unversehrt, nur einige wenige wiesen kleinere Schäden durch Meteoriten auf. Nur den Inhalt konnte sie nicht überprüfen. Sie hatte nur die Inventarliste zur Verfügung, auf der die Container samt Ladung verzeichnet waren. Der Lichtkegel wanderte weiter und ihr Herz setzte vor Entsetzen aus. Gerade dort, wo die Proviantcontainer befestigt sein sollten, ragten nur die Trümmer zerschmetterten Blechs und verbogener Träger ins All.

Das hier war schlimmer als leere oder nicht verladene Container. Trümmer, in denen teilweise noch die Reste der geplatzten Rationen klebten. Was sie hier vorfand, würde vielleicht reichen um eine Person bis zur Landung durch zu bringen. Das Schiff war aber Heimat von Tausenden! Panik, Verzweiflung und Resignation lieferten sich eine erbitterte Schlacht in ihrer Brust und sie bemühte sich nach Kräften, nicht einfach nur noch in Tränen aus zu brechen. Sie bebte so kräftig, dass sie die Steuerung los lassen musste um keinen Unfall zu provozieren. Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, presste sich mit aller verbleibenden Kraft in den Sitz und zwang sich durch zu atmen.

Antriebslos trieb die Biene im Raum während sich das Schiff langsam unter ihr weiter schob. Ein schriller Annäherungsalarm riss Marissa aus ihrer depressiven Lähmung. Sie trieb direkt auf einen verbogenen Träger zu. Ein heißer Stich jagte von ihrem Herzen aus den Rücken entlang. Der Schatten, der sich da vor ihr abzeichnete, konnte ein intakter Container sein. Eilig richtete sie die Biene neu aus und beleuchtete ihn. Wahrhaftig! Ein Rationscontainer, weitgehend unversehrt und versiegelt. Lediglich ein wenig verbeult. Wenn sie nur noch einen weiteren fand, dann hätten sie sicher eine Woche zusätzlich bekommen. Sie konnte es kaum fassen. Fragiler als eine Perlenkette hing eine Serie von Containern an einem Draht.

Sie suchte alles ab, was sie erreichen konnte. Am Ende musste sie etwa ein Viertel der Container als verloren in die Inventarliste eintragen. Ein Verlust, der ihr bitterer als Galle im Mund lag und ihr Herz rasen ließ. Sie betete, dass die Rationen in den verbliebenen Containern intakt waren. Sie würden jede einzelne davon benötigen, oder es würde nicht reichen. Sie konnte den Hunger schon in sich nagen fühlen. Am Ende trennte sie den letzten Container von der Kette ab und nahm ihn ins Schlepptau. In diesem Zustand traute sie sich schlicht nicht, mehr als einzelne Container zu transportieren. Wie ein rohes Ei schleppte sie ihn in den Hangar, traute sich kaum ihn ab zu setzen. Ihr Herz schlug so stark, dass sie den Eindruck hatte, es müsse ihr die Adern sprengen.

Unter den neugierigen Augen der Hangarcrew brach sie das Siegel des Containers. Die Gerüchteküche hatte die Nachricht des Nahrungsproblems bereits im Schiff verbreitet. Als hinter den Containertüren nun die dicht gepackten Notrationen zum Vorschein kamen, spürte sie hinter sich einerseits ein erleichtertes Aufatmen, andererseits kalte Beklommenheit. Bis zu diesem Moment hatte sich niemand im Hangar ernsthaft getraut, an die Knappheit zu glauben. Marissa selbst traute sich noch nicht, auf zu atmen. Zögerlich zog sie eine Ration aus dem Container, wog die flache Tüte in der Hand und riss sie dann vorsichtig auf. Bedacht darauf, keinen Krümel zu vergeuden, zog sie den Inhalt hinaus und untersuchte ihn gewissenhaft.

Vom Aussehen her war alles gut, der Geruch dagegen etwas muffig aber nicht direkt ungenießbar. Sie traute sich kaum es zu probieren. Als sie dann am Ende doch hinein biss fühlte es sich an, als fülle sich ihr Mund mit Asche. Mit verkniffenem Gesicht kaute sie die fast geschmacklose Substanz. Es knirschte staubig und gab ihr ein eher unbehagliches Gefühl. Das Lebensmittellabor würde wieder etwas zu tun haben denn für sie war nicht deutlich, dass die Ration essbar und auch nahrhaft war.


Die Laborergebnisse der Nährlösung in der Hand kam Marissa wieder in der Farm an. Ihr Blick war nach innen gerichtet und die Stirn in Falten gelegt. Abwesend wanderte sie durch die Reihen und strich über die Pflanzen. Sie kamen ihr schrecklich kümmerlich vor und das, obwohl sie fast wie immer schienen. Sie fühlte sich alt, müde und hungrig, trotz des Frühstücks. So sehr es aber auch in ihr nagte, sie traute sich einfach nicht, etwas zu essen. Jeder Bissen erschien ihr auf einmal wie das höchste Gut. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. So stand sie einige Minuten und genoss die Kontinuität des ewig Gleichen. Fast genau so war es immer gewesen, mit Ausnahme des leichten Flackerns. Nervös öffnete sie die Augen wieder und blickte direkt in die hellen Gewächshauslampen. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Eine der Lampen leuchtete unregelmäßig, das war ihr aufgefallen. Es erschien ihr allerdings eher so, als hätte sie es letzte Woche bemerkt und nicht am selben Vormittag.

Marissa schnalzte ungehalten mit der Zunge. Auf diesem Schiff lief schon zu viel schief, als dass sie eine weitere Fehlfunktion dulden würde. Die Techniker würden kommen müssen und die Lampe reparieren. Umgehend rief sie in der Verwaltung an, mehr um etwas zu tun, als dass es zwingend nötig gewesen wäre. Langsam erreichte sie einen Punkt, an dem sie ihre eigene Hilflosigkeit nicht länger ertragen konnte.

Offensichtlich genoss die Farm dank der Gerüchte eine besondere Behandlung denn kaum zehn Minuten später standen drei Techniker in der Tür und schnauften atemlos. Obwohl Marissa jeden von ihnen schon mehrfach hier unten gesehen hatte wirkten sie allesamt wie fremd und verkrampft. Gerade so, als wären sie uneingeladen in eine private Party geplatzt und hätten die Gastgeberin mit dem Mann ihrer besten Freundin in verfänglicher Pose erwischt. Verschämt versuchten sie krampfhaft, die Pflanzen zu ignorieren und versagten bei dieser Bemühung sagenhaft. Die Neugier war einfach zu groß und wurde durch bloßes hinsehen nicht im geringsten befriedigt. Mit unverhohlener Enttäuschung begaben sie sich zu der mittlerweile ebenso unverhohlen flackernden Lampe.

Marissa hätte erwartet, dass sie die Birne austauschen und das Thema damit erledigt wäre. Die Techniker aber hatten ihre eigenen Pläne. Nervös demontierten sie die komplette Lampe und verschwanden damit in Richtung ihrer Werkstatt, ohne für Ersatz zu sorgen. Zurück blieb eine verdutzte Farmerin und ein schattiger Abschnitt in der hydroponischen Anlage. Eine Erklärung waren sie ebenfalls schuldig geblieben. Sie schickte ihnen ein Memo hinterher und beschloss, den Vorfall zu vergessen.

Wenigstens was das Vergessen betraf waren die Techniker anderer Meinung. Schon eine halbe Stunde später meldeten sie sich bei ihr und baten sie, in einem für ihren Geschmack viel zu befehlenden Ton, in die Werkstatt. Da es auf der Farm gerade nichts mehr für sie zu tun gab, ließ sie die Herrschaften nur zehn Minuten warten und begab sich schmollend zu ihnen. Dort fand sie ihre Theorie der besonderen Behandlung teilweise bestätigt. Ihre Lampe lag nicht, wie sie erwartet hatte, auf einer der überladenen Werkbänke sondern in einem offensichtlich eilig eigens dafür zusammengeschusterten Gestell. Und sie leuchtete einwandfrei, völlig ohne zu flackern. Marissa blickte die Lampe an, zog die linke Augenbraue hoch und wandte sich dann wortlos den Technikern zu.

„Wie Sie sehen können, wir haben die Lampe repariert. Das Flackern war nur ein einfacher Wackelkontakt. Die Anschlüsse sind, wahrscheinlich aufgrund des feuchten Klimas der Farm, korrodiert und waren im Begriff, ab zu fallen. Wir haben Kabel und Anschlüsse ersetzt, um einen Kabelbrand auch zukünftig zu vermeiden. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würden wir auch gerne die anderen Lampen der Farm warten. Ich muss ihnen ja die Gefahr, die von einem solchen Feuer ausgeht nicht erläutern.“

Sie nickte nur zustimmend. Das Schiff machte sein Alter in den letzten Monaten immer öfter deutlich. Spröder Lack platzte von den Wänden, Rohrleitungen wurden undicht und auch die Dichtungen ließen langsam nach. Marissa hatte das bemerkt und sich maßlos darüber geärgert. Andere Schiffe der Flotte taten bereits seit über sechzig Jahren ihren Dienst und waren in besserem Zustand. Bei einem Kolonieschiff legte man anscheinend nicht so viel Wert auf die Qualität wie bei den Kreuzern. Menschen gab es schließlich genug. Der Techniker jedenfalls war noch nicht fertig mit seinem Vortrag. Kaum, dass sie genickt hatte, kaute er kurz auf seinem Zeigefinger, guckte nachdenklich und hob dann neu an.

„Wir haben die Gelegenheit jedenfalls genutzt, die Lampe etwas genauer zu untersuchen. Auch wir haben nicht so oft die Gelegenheit, eine der alten Tageslichtlampen zu testen. Temperaturentwicklung, Stromverbrauch, Leuchtkraft, Leuchtkörperchemie. Alles, was uns eingefallen ist und was wir testen konnten. Es ist alles so, wie wir es erwartet hatten. Es scheint keine Abweichungen zu geben, aber dann haben wir noch eine Spektralanalyse gemacht. Das Ergebnis hat uns alle sehr überrascht und ist durchaus interessant.“ Er rief die Auswertungen des Tests auf. Eine gezackte Linie lag über einem Regenbogen. „Wie wir sehen können, ist nicht der volle Frequenzbereich abgedeckt. Hier, im grünen Bereich sowie hier und hier, in den roten und blauen Randbereichen, bricht die Kurve stark ein. Besonders der UV-Bereich ist fast vollständig verschwunden. Die blauen Anteile sind so gesehen gar nicht mehr vorhanden. Um so erstaunlicher ist, dass das Licht trotzdem so weiß erscheint. Ich kann nur mutmaßen, dass das hier unser Problem mit dem Pflanzenwachstum verursacht. Nur dagegen sind wir tatsächlich machtlos.“

Er zuckte resigniert mit den Schultern und ließ die Arme schlaff herab fallen. Marissa sah ihn konsterniert an. Sie wünschte sich, sie könne behaupten, nicht verstanden zu haben wovon er da geredet hatte. Leider verstand sie es nur all zu gut. Sie griff nach Stohhalmen.

„Und woher genau kommt das? Ich mein, ihr Jungs bekommt doch sonst alles repariert. Könnt ihr da nicht hier auch was machen? Etwas Technikmagie, neue Glühfäden, Ersatzbirnen? Irgendwas muss doch gehen!“

Der mutlose Ausdruck auf den Gesichtern ihr gegenüber verbesserte die Situation nicht um ein Bisschen. Einer der Techniker trat leise vor einen Schrank und öffnete ihn mit betretener Miene.

„Das Problem ist die Lichtzelle selbst, da kann man nichts reparieren. Sie ist einfach nach all den Jahren ausgebrannt. Es bräuchte also wirklich Ersatzbirnen und Sie wissen ja selbst, egal wie nötig es ist, die Brücke gewährt so etwas nur sehr ungern. Wir haben uns also umgesehen. Wo auf dem Schiff hat die Beleuchtung wenigstens ein Jahr weniger an Leuchtstunden? Nur in den Frachträumen, Lagerräumen und im Kartenraum. In den Frachträumen sind billige Diodenleisten verbaut, außerdem ist dort kein Wachstum gewünscht. Gleiches gilt für die Lager. Eine Pechfackel wäre geeigneter als Beleuchtung. Der Kartenraum ist mit Buntlicht versorgt. Blau und Rot, da sind wir mit den ausgebrannten Lampen noch besser dran. Es führt also kein Weg an den Reservelampen vorbei. Laut Inventar sind sie hier.“

Er trat zur Seite und gab den Blick in den Schrank frei. Auf den staubigen Regalbrettern lag ein Satz Schraubenschlüssel in antiker Maßeinheit, drei leere und eine halb volle Schachtel mit Nägeln, eine Hand voll loser Schrauben, eine Packung zerknitterter Zigaretten (Nikotinfrei aber trotzdem illegal an Bord) und ein leerer Streifen einer Empfängnissverhütungspille. Ersatzbirnen waren weder in diesem Schrank, noch in anderen zu finden. In der Werkstatt herrschte absolute Stille. Niemand traute sich auch nur zu atmen. Diesmal griff einer der Techniker nach dem Strohhalm.

„Wenn wir die Tageslichtlampen aus den Wohnquartieren dazu nehmen und pro Lampe... sagen wir mal drei Leuchtkörper bündeln. Könnte das vielleicht für Ausgleich sorgen?“

„Wir müssten sehr aufpassen, dass die Pflanzen nicht verbrennen aber wenn die Frequenzen noch in Ansätzen vorhanden sind, dann müsste sich der Effekt doch summieren.“ Marissa schöpfte neuen Mut. Ein solches Vorgehen würde allerdings nur mit Genehmigung der Brücke möglich sein und sie riss sich nicht gerade um die Vorstellung, beim Kommando vorstellig zu werden.


Die Kabinentür schloss sich hinter ihr. Marissa zog sich das Zopfgummi aus den Haaren und ließ sich vorn über auf ihr kurzes Sofa fallen. Die helle Lockenpracht entfaltete sich und fiel schlaff um ihren Kopf. Bevor sie die Werkstatt verlassen hatte, hatte sie noch neben allen Anwesenden Technikern den Antrag an die Brücke unterschrieben. Trotz des Dringlichkeitsstempels erwartete sie eine Antwort aus dem Elfenbeinturm nicht vor nächster Woche. Dafür war die Verwaltung viel zu abgeschottet vom Rest des Schiffs.

Für etliche Minuten blieb sie einfach nur liegen. Seit sie heute morgen aufgestanden war hatte sie das Gefühl, um zehn Jahre gealtert zu sein. Sie fühlte sich alt, schlapp, hungrig und ausgelaugt. Wenigstens gegen den Hunger könnte sie was tun. Sie raffte sich auf und griff sich mürrisch etwas zu Essen. Nudeln mit Algen und Sojasoße, die Version zum 'mal eben auf brühen'. Sie fühlte sich wieder an den Geschmack der Notrationen heute Mittag erinnert. Nur, dass die Portion Nudeln bei weitem nicht so staubig war. Ohne weitere Umwege fiel sie in ihr Bett und war eingeschlafen, noch bevor sie sich hätte ausziehen können.


Der nächste Morgen startete wie der vorherige, wie jeder Morgen. Abwechslung fand Marissa erst auf ihrem Schreibtisch in der Farm. Ihr Antrag von gestern war mitsamt einer Antwort von der Brücke zurück gekommen. Sie war ehrlich überrascht. Skeptisch überflog sie die Nachricht und ihre Augen spiegelten bei jedem weiteren Wort immer weniger Skepsis, dafür aber blanke Fassungslosigkeit wider.

„Wir haben über mehrere Kanäle von Problemen bei der Nahrungsversorgung erfahren. Eine fortlaufende Versorgung der Besatzung mit hochwertigen Lebensmitteln ist für die Moral an Bord unabdingbar. Wir erwarten, dass Sie diese Versorgung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gewährleisten. Das Schiff, seine Crew oder Teile von beidem dürfen nicht beeinträchtigt werden. Viel Erfolg. G. Marten. Erster Offizier.“

Im Klartext hieß das, es durften keine Lampen demontiert werden. Das konnte nur ein Scherz sein. Der erste Offizier, die zweitmächtigste Position an Bord des gesamten Schiffs hatte ihren Antrag, das Schiff vor einer Hungersnot zu bewahren abgelehnt! Er musste doch begriffen haben, was los war! Oder? Niemand auf der Brücke durfte es sich leisten, ignorant zu sein. Vielleicht hatte der erste Offizier einfach übersehen, dass es keine Ersatzteile mehr gab. Sie verfasste ihm eine Antwort, in der sie ihn darauf hin wies, dass sie die Birnen aus den Quartieren zwingend benötigten, da das die letzten verbliebenen Ersatzteile waren. Danach verfasste sie zwei Rationierungspläne. Einen, der davon aus ging, dass die Brücke ihrer Bitte nach gab und die modifizierten Lampen wie erhofft funktionieren würden. Einen weiteren, der davon aus ging, dass die aktuelle Situation bis zur Landung bestehen bleiben würde. Selbst unter Berücksichtigung der Notrationen kam sie auf kein erfolgreiches Ergebnis. Sie würden es nicht alle schaffen. Für wenigstens zwanzig Prozent der Kolonisten würde der Nahrungsmangel wahrscheinlich tödlich enden.

Entsetzt ertappte sie sich selbst dabei, Statistiken in ihrem Kopf laufen zu lassen. Statistiken, die die Menschen an Bord in harten Zahlen wider gaben und nicht als Lebewesen. Am größten aber war ihr Schreck darüber, wie nüchtern und kalt sie die Situation betrachtete. Sie ging sogar soweit, bestimmten Bevölkerungsgruppen bewusst geringere Rationen zu zu teilen, um die Überlebenschancen anderer zu steigern. Als sie das realisierte, löschte sie den Entwurf, legte die Folie beiseite und begab sich zu den Pflanzen.

Marissas Pad machte sie am Ende der Mittagspause darauf aufmerksam, dass sie ein Memo erhalten hatte. Es war wieder eine Nachricht von der Brücke, diesmal allerdings allgemein gehalten, ohne Namen. Die Botschaft selbst war diesmal noch eindeutiger. Da die Inventarlisten noch Ersatzbirnen auflisteten, musste es auch welche geben. Die Plünderung der Quartiere käme auf keinen Fall in Frage. Es würde die Besatzung nur unnötig beunruhigen. Im Allgemeinen war das Thema der Nahrungsknappheit und allem damit in Zusammenhang stehenden mit äußerster Diskretion zu behandeln. Die Bevölkerung durfte nicht beunruhigt werden.

So etwas konnten auch nur Leute schreiben, die keine Ahnung von der Situation an Bord hatten. Es wusste doch sowieso bereits Jeder, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte die nervösen Blicke am Morgen natürlich bemerkt, wie sie ihr nach schielten in der Hoffnung auf irgendeine Information. Es wurde getuschelt, wie immer, nur dass sie diesmal selbst Gegenstand des Getuschel war. Es wäre wohl das Beste, die Leute auf zu klären und die Situation dar zu legen. Da war nur dieser Befehl von der Brücke, der das verbot.

In ihre mürrische Grübelei hinein platzte Besuch. Einer der Techniker stand in der Tür, mit einem Pad in der Hand. Er sah sie mit einer Mischung aus Wut und Verwirrung an.

„Wir haben die Brücke doch extra darauf hin gewiesen, dass es keine Ersatzteile mehr gibt. Auf was beziehen die sich da oben denn? Gibt es noch ein Lager, von dem wir nichts wissen? Die werden doch nicht einfach unseren Bericht ignorieren.“

„Ich habe keine Idee, wo wir noch suchen könnten. Andererseits, die Notrationen waren auch eher in der Inventur versteckt. Vielleicht gibt es da noch mehr im Lager, was wir nicht erwartet hätten. Die Container sind allerdings in keinem guten Zustand.“

„Darauf können wir wohl keine Rücksicht nehmen. Wir haben nicht mehr all zu viele Optionen und diese erscheint mir am verlockendsten. Ich werde mal die Listen durchsehen. Viel mehr bleibt uns gerade eh nicht übrig.“

Marissa konnte ihm nicht widersprechen. Sie hatte ein schreckliches Gefühl bei der Sache aber es stimmte schon, ihnen gingen die Optionen aus. Stattdessen meldete sich das Nachrichtenzentrum und wünschte eine Stellungnahme. Sie gab nur an, dass sie zum aktuellen Zeitraum keinen Kommentar abgeben könne. Bevor sie weiter ausholen konnte, stand auch schon der nächste Besucher in der Tür. Frau Doktor Verdun. Immer im Dienst, immer übermüdet, immer nervös und immer voller Koffein. Sie drückte sich an den Rand des Türrahmens und knetete ihre Hände. Marissas Aufforderung hinein zu kommen wimmelte sie ab. Sie wolle gar nicht so lange stören, habe aber diverse Gerüchte gehört und könne vielleicht helfen. Marissa wurde neugierig, hauptsächlich wegen der Gerüchte. Die Frau Doktor aber druckste zunächst etwas unbeholfen herum.

„Nun, die Leute reden, es gäbe nicht mehr genug zu Essen. Die Pflanzen wären krank, sagen die Leute. Ich habe eine große Auswahl an Mitteln gegen Pilzbefall und bakterielle Erkrankungen. Damit sollte man natürlich sehr vorsichtig sein um den Konsumenten nicht zu gefährden. Andere Leute sagen, das Saatgut wäre verkümmert. Da bin ich leider weitgehend machtlos. Ich habe versucht Pflanzenzellen zu klonen und teilweise ist es mir auch gelungen. Es reicht nur nicht für einen kompletten, gesunden Samen.

Heute Mittag habe ich durch einige Patienten erfahren, es könne das Licht sein. Die Lampen könnten kaputt sein oder zu schwach, keine Ahnung, ich bin kein Techniker. Aber dabei fiel mir ein, wir haben auf der Krankenstation noch immer zwei oder drei alte Höhensonnen. Sie sind zwar auch nicht jünger als die Lampen in der Farm, aber sie wurden so gut wie nie benutzt. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wo genau ihr Problem liegt aber das sind die Gerüchte, die ich bisher am häufigsten gehört habe. Ansonsten weiß ich auch nicht, was ich ihnen ansonsten für Hilfe anbieten kann.

Außer vielleicht einem noch. Ich erinnere mich an ein Projekt, damals, auf der Erde noch. Eine kleine Gruppe von Biotechnikern kultivierte Fleisch in Kanistern voller Nährlösung. Eine einzelne Faser eines Spendertieres wurde in der Lösung zum Wachstum angeregt, bis sich der Kanister damit gefüllt hatte. Da keine Nervenfasern darin vorhanden waren, konnte man das Fleisch verkaufen, trotz der Konvention von Monschau. Zu dem Zeitpunkt war der Markt für Fleischprodukte aber bereits verschwunden. Jedenfalls glaube ich, verstanden zu haben, was diese Leute damals getan haben. Im Notfall könnte ich das ganze replizieren, hoffe ich.“

Die Doktorin starrte etwas beschämt zu Boden und knetete ihre Hände fester. Fleisch stand nicht mal ansatzweise auf dem Speiseplan der Besatzung. Es mochte einmal als Zeichen von Luxus und Wohlstand gegolten haben aber das war lange her. Sie würde sich vorkommen wie ein Höhlenmensch, wie die Barbaren aus grauer Vorzeit. Marissa starrte sie mit offenem Mund an. Sie war bei einem anderen Punkt hellhörig geworden und der könnte vielleicht wirklich helfen. Höhensonnen, die ursprünglichsten Tageslichtlampen von denen sie wusste. Als sie sich bewusst wurde, dass ihr Mund offen stand biss sie sich beschämt auf die Lippe und hoffte nur, die Doktorin hätte es nicht bemerkt. Zwei, vielleicht drei Lampen. Das war nicht viel aber es war ein Ansatz und sie brauchten alles was sie kriegen konnten. In ihrem Kopf arrangierte sie die Lampen bereits so auf einem imaginären Grundriss, dass sie möglichst viel abdeckten. Es gab also Hoffnung.

„Versuchen wir es doch mit den Höhensonnen. So unfassbar es klingt, damit könnten wir wirklich an etwas dran sein. Ich wäre ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie sie zur Verfügung stellen würden. Ich versichere Ihnen, wir werden gut darauf acht geben. Mit etwas Glück kommen wir um die Fleischproduktion herum. Aber so unappetitlich der Gedanke sein mag, es ist beruhigend, wenigstens die Option zu haben. Behalten wir sie mal im Auge.“

Die Doktorin Verdun freute sich regelrecht kindlich, hilfreich sein zu können. Sich ausschweifend bedankend verschwand sie, mit dem Versprechen umgehend alle Höhensonnen vorbei zu bringen, die sie finden konnte.

Sie hielt Wort. Zum Feierabend standen zwei Höhensonnen und zwei Ersatzbirnen dafür in der Farm. Vier frische Lichtquellen würden mehr als willkommene Dienste leisten können. Wenn es nach Marissa ging, waren alle vier morgen noch vor der Mittagspause im Einsatz.

Pünktlich zum Schichtende stand der Techniker wieder in der Tür. Diesmal weniger verwirrt, dafür um so aufgeregter. Er hämmerte mit dem Finger auf die Inventarlisten in seiner Hand.

„Ich habe etwas gefunden! Hier sind einige Container aufgelistet, in denen unter anderem Quecksilberdampflampen verstaut sein sollen. Das könnte die Brücke doch gemeint haben. Sie liegen hier, am Frachtausleger.“ Er deutete vage auf eine Stelle auf einem Schiffsquerschnitt. „Ich habe schon im Hangar Bescheid gegeben und für morgen eine Biene reserviert. Mit etwas Glück, können wir dann direkt morgen Mittag mit den Reparaturen beginnen.“

Marissa sah sich die Stelle auf dem Querschnitt genauer an. Ungefähr da hätten auch die Rationen liegen sollen. Genau an der Stelle war der Einschlag. Sie hatte keine Hoffnung, dass die Lampen noch dort waren, traute sich aber nicht, den Techniker zu entmutigen. Er wirkte gerade so aufgeregt und zuversichtlich. Sie entschloss sich stattdessen, ihn etwas zu bremsen und drauf aufmerksam zu machen, dass er nicht wissen konnte, ob die Liste korrekt war und selbst wenn, ob die Lampen noch brauchbar waren. Er ignorierte sie zwar nicht, zeigte sich aber zunächst wenig beeindruckt. Sein Blick wanderte über die Leihgabe der Krankenstation. Fragend zog er die Augenbrauen hoch. Marissa erklärte ihm flüchtig die Situation und er kündigte ohne Umschweif seine Hilfe an.


Diese Nacht konnte Marissa trotz völliger Erschöpfung nicht schlafen. Sie wälzte sich Stunde um Stunde hin und her, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und zur Ruhe zu kommen. Ihr Magen knurrte und verlangte nach einem ordentlichen Mahl. Um drei Uhr nachts gab sie entnervt auf. Sie schwang sich aus dem Bett, um sich wenigstens mit einem Pudding mit Früchten ab zu lenken. Sie hatte schon überlegt, die Früchte zu trocknen und haltbarer zu machen aber das erschien ihr dann als Verschwendung. Sie sollte sie genießen, solange sie noch frisch waren.

Die Augen halb geschlossen saß sie im Schneidersitz an ihrem Schreibtisch, die Schüssel Pudding im Schoß. Sie beruhigte sich allmählich ein wenig und mit jedem Löffel wurden ihre Arme schwerer. Den letzten Löffel noch im Mund, rollte sie sich schon wieder auf ihre Matratze. Am Rande bemerkte sie noch, dass sie soeben ein weiteres Memo bekommen hatte. Diese Information schaffte es aber nicht mehr in ihr Bewusstsein. Sie hatte die Augen bereits geschlossen und wusste genau, sie würde den Wecker am nächsten Morgen ganz besonders verfluchen.

Das schrille Kreischen des Weckers riss sie erneut viel zu früh aus einem traumlosen Schlaf. Ihre Kabine war abgekühlt und sie fror neben der dünnen Bettdecke. Sie hatte es nicht mehr geschafft sich zu zu decken, aber bei dieser Decke hätte es wohl keinen Unterschied gemacht. Sie zwang sich aus dem Bett und unter die heiße Dusche. Bändigte ihre Haare in einen strengen Zopf und wusch die alte Schminke ab. Heute würde es auch ohne gehen müssen. Bei ihrem Frühstück, bestehend aus einem heißen Tee und einem Butterbrot, schaffte es die Information über das Memo in ihr Bewusstsein. Ohne es zu lesen rief sie es auf ihrem Pad auf, deaktivierte den Bildschirm und ging in Richtung der Farm.

Ihr verschlafener Zustand an diesem Morgen entging den wenigen Menschen auf den Fluren nicht. So freundlich die gegrüßt wurde, so besorgt wurde ihr nach gesehen. Sie musste sich nicht umdrehen. Jeden einzelnen Blick konnte sie so deutlich im Rücken spüren, als würden die Leute durch sie hindurch stechen. Das Getuschel erschien ihr, als würden ihr die Leute ins Ohr schreien. Sie war heilfroh, endlich die Türe der Farm hinter sich schließen zu hören.

Marissas erste Amtshandlung an diesem Tag bestand darin, ein großes Glas kalten Wassers zu trinken. Sie legte ihr Pad beiseite und griff sich die erste Lampe. Es galt nicht noch mehr Zeit zu verschenken, also warf sie Verlängerungskabel und brachte die Lampen in Position. Mit Blumendraht und Klebeband improvisierte sie vorläufige Aufhängungen und hob die Höhensonnen unter die Decke. Nach wenigen Stunden erschien ihr die Farm regelrecht überstrahlt hell. Die zugequollenen Augen brannten. Irgendwo gab es bestimmt eine Schweißermaske auf dem Schiff. Sonnenbrillen gab es kaum. Wofür auch? Es war eh immer gleich hell und der Tag-Nacht-Rhytmus an Bord hatte sich auch noch nie verändert. Im gleißenden Licht blickte sie über die extra versorgten Regale. Die zusätzlichen Lampen hatten für mehr gereicht, als sie geglaubt hatte, trotzdem lag nun der größte Teil der Farm im Schatten.

Sie gönnte sich eine kurze Pause. Zeit genug, den alltäglichen Papierkram zu erledigen, ganz ohne Papier. Auf ihrem Pad fand Marissa auch gleich das Memo wieder. Zerknirscht erinnerte sie sich an die nächtliche Störung. Das Memo selbst was halbwegs allgemein gehalten. Es war eine Information an die Abteilungsleiter. Eine Information darüber, dass der Triebwerksreaktor aufgrund eines technischen Defekts nicht ordnungsgemäß hochgefahren werden konnte. Man habe das Problem bereits identifizieren können.

Solange die Reparaturarbeiten andauern, wird der Energiebedarf durch die Hauptreaktoren kompensiert werden. Sämtliche verfügbaren Reaktoren sind bereits auf ihre volle Leistung hoch gefahren. Um das Energienetz nicht unnötig zu strapazieren, werden alle nicht notwendigen Verbraucher vom Netz genommen. Das beinhaltet unter anderem ein Aussetzen der Notfallübungen im besagten Zeitraum. Des weiteren werden für die Dauer der Verknappung keine Flüge genehmigt. Der Hangar bleibt geschlossen.

Es fanden sich noch einige kleinere Beeinträchtigungen auf der Liste. Die Reduzierung der Beleuchtung, herabsetzen der Temperatur an Bord und so weiter. Marissa schielte in die große Farmhalle. Sie hatte von keiner Verknappung etwas mitbekommen und was ihr noch absurder erschien, es gab keinen Grund für die Umleitung. Das Triebwerk würde noch für einige Wochen kalt bleiben, der Triebwerksreaktor also noch überhaupt nicht benötigt. Natürlich war es sinnvoll ihn zu testen und gegebenenfalls zu reparieren. Nur wofür brauchte es dafür so viel Energie, dass die Bienen im Hangar eingesperrt werden mussten? Sie verstand die Welt nicht mehr.

Sie hatte gerade eine weitere Nachricht von der Brücke das erste mal überflogen, da stand der Techniker vom Vortag mit hochrotem Kopf vor ihr.

„Ich war im Hangar, es ist ein Skandal! Mir wurde gestern ganz selbstverständlich eine Biene zugesichert und das für den ganzen Tag. Jetzt komme ich in den Hangar und was ist los? Nichts! Er ist verschlossen! Sämtliche Flüge sind gestrichen um Energie zu sparen. Das ist ein Skandal! Man sollte sich auf der Brücke beschweren, wenn es nicht von da kommen würde.“

Sie versuchte ihn zu beruhigen aber er hatte sich in Rage geredet. Es war wohl besser, die letzte Nachricht vorerst zu vergessen. Wenn er erfuhr, dass die Brücke angeordnet hatte, trotz des Energiemangels die Nahrungsproduktion wieder dem Bedarf an zu passen, er wäre vollends explodiert. Für Marissa aber war das Problem damit gelöst. Sie hatte einen vorrangigen Befehl von 'ganz oben' bekommen und den würde sie nun ausführen. Sie bat den verdatterten Techniker alles vor zu bereiten, strich sich die Haare glatt, richtete sich auf und schritt in Richtung des Hangars davon.


„Marc, mein Freund, wie oft habe ich dich schon um einen Gefallen gebeten?“

„Noch nie Liebes, noch nie. Aber das hier ist etwas anderes. Ich kann doch nicht einfach einen direkten Befehl ignorieren.“

„Du würdest ihn ja nicht ignorieren! Du würdest lediglich einem höheren Befehl den Vorrang geben. Es ist doch gar nicht so kompliziert.“

„Nicht so kompliziert sagt sie. Nicht so Kompliziert! Kind, hast du eine Ahnung … ? Natürlich hast du das nicht, du warst damals kaum geboren. Aber früher, bei der Flotte, hätten wir uns eine solche Interpretation von Befehlen nie erlaubt.“

„Ein Glück aber auch, dass wir hier nicht bei der Flotte sind. Ich bin sicher der Käptn würde uns in Stücke reißen, ehe wir husten könnten.“

„Du hast ja keine Ahnung, was der Käptn getan hätte. Ach, hols der Teufel! Aber wie soll ich armer, alter Mann im Alleingang den Hangar in betrieb nehmen und zeitgleich deinen Flug überwachen? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht?“

„Du könntest einen vertrauenswürdigen Kollegen um Hilfe bitten.“ Sie sah ihn mit großen, unschuldigen Augen an und klimperte wie zufällig mit den Wimpern. Er war drauf und dran, sich die Hände vor die Augen zu schlagen, drehte sich stattdessen nur zwei mal um sich selbst und knirschte hörbar mit den Zähnen. Am Ende riss er sich an den Haaren, holte tief Luft und sah sie so streng an, wie er konnte.

„Und es ist wirklich zwingend notwendig, diese Container rein zu holen? Du hast doch gestern schon einen hinein geholt.“

„Du kannst natürlich auch hoffen, dass die staubigen Rationen reichen aber ich für meinen Teil beiße lieber in was Frisches. Nur genau dafür brauche ich zwingend diese Lampen in diesen Containern.“

Marc überlegte angestrengt und rupfte sich wieder an den grauen Haaren. Man konnte sein Gehirn bald rasseln hören, so angestrengt schien er nach zu denken.

„Also gut. Aber im Gegenzug verlange ich auch einen kleinen Gefallen. Zwei eigentlich, einen für mich selbst und einen für den guten Jeb, der die Flugüberwachung übernehmen muss.“ Sie hob die Brauen, sah ihn misstrauisch an, nickte aber trotzdem langsam. „Ich weiß, dass ihr in der Industriefarm gewisse Pflanzen anbaut. Darunter eine spezielle, aus der die Seidenproteine gewonnen werden.“

Marissa konnte es nicht fassen. Dieser alte Zwerg war doch einfach unverbesserlich. Sie kämpfte nach Kräften um die Gewährleistung der Nahrungsversorgung, bemühte sich, dass niemand an Bord zum Hungertod verdammt war und dieser Witzbold fragte nach Tabak. Sie stöhnte auf und drehte sich weg.

„Ach komm schon!“ rief er ihr nach. „Ich bitte dich nicht gleich um die ganze Pflanze. Zwei reife Blätter reichen völlig. Eins für mich, eins für Jeb. Aber die guten, nicht die Spinnenmutation. Nikotin muss drin sein und Teer, damit es sich auch lohnt.“

„Irgendwann bringen dich deine Spielchen noch einmal ins Grab, Marc.“

„Das ist ein Ja? Ach was frag ich, natürlich ist das ein Ja. Komm in zehn Minuten zur Startrampe.“

„Ich warne dich! Sei dann auch pünktlich. Und keine faulen Tricks sonst wirst du nie erfahren, womit du dir deine Zigarre gerollt hast.“

„Neun Minuten. Husch husch! Ab mit dir, geh dich vorbereiten.“ Mit einer eindeutigen Geste jagte er sie davon und flitzte selber mit einem breiten Grinsen durch die Korridore. Ein Schiff, auf dem alles brennende verboten war, Kerzen eingeschlossen, und er hatte Tabak organisieren können. Er war stolz auf sich.


Die Biene verließ einen gespenstisch stillen Hangar. Drinnen war es kaum heller gewesen als außerhalb des Schiffs, so musste Marissa voll auf die Instrumente vertrauen. Sie konnte nicht von sich behaupten, die Instrumente besonders zu mögen. Wenn sie fliegen konnte, dann am liebsten auf Sicht. Damit musste sie sich nun etwas gedulden, denn sie wollte gerne den Frachtausleger ohne Licht erreichen. Das Risiko, durch eines der Fenster zufällig beobachtet zu werden erschien ihr zu groß. Die nervöse Stimmung an Bord würde garantiert dafür sorgen, dass der ein oder andere die Sterne beobachten wollte und immerhin herrschte offiziell Flugverbot. Marissa fühlte sich, als müsse sie schleichen und den Atem an halten um keinen Lärm zu verursachen.

Über dem Armaturenbrett klemmte die Inventarliste, auf der die betreffenden Container markiert waren. Sie nahm sich vor, den zerstörten Bereich dort ein zu tragen, würde aber wahrscheinlich am Ende eh nicht mehr daran denken. Die Schemen der Container kamen in Sicht und sie passte ihre Flugrichtung vorsichtig an. Irgendwo da vorne ragten die Splitter des Auslegers hinaus. Sie konnte sie noch nicht erkennen, schaltete den Scheinwerfer ein und erschrak. Direkt vor der Biene lag ein Träger quer im Raum. Um ein Haar wäre sie genau hinein geflogen und hätte nicht einmal gewusst, was sie getroffen hatte. Sie hatte das Trümmerfeld also schon erreicht. Mit viel Glück wäre sie hindurch, ehe die Karte ihr die Container meldete.

Als die Karte sich schließlich meldete und verkündete, der erste Container befinde sich direkt unter ihr, wäre sie am liebsten wieder umgedreht. Anstelle der Fracht war dort nur der verbogene Träger. Marissa seufzte laut und schloss die Augen. Zum Aufgeben war es aber zu früh, das hatten die Notrationen ihr schon gezeigt. Sie strich den verlorenen Container aus der Liste und flog den nächsten an. Dort zeigte sich das gleiche Bild, sie strich weiter Container aus. Am Ende hatte sie nur noch drei Positionen auf der Liste aber dafür ein Lichtblick vor sich. Nach gefühlt endloser Suche hatte sie einen intakten Container vor sich. Glücklich markierte sie ihn auf der Liste und sah sich nach den letzten beiden um.

Sie fand beide Container am angegebenen Ort, lediglich leicht verbeult. Sie markierte wieder beide, entschied sich dann aber dazu, den letzten gleich mit zu nehmen. Mit etwas Glück würde die Technik gleich damit beginnen können, die Leuchten aus zu wechseln. Mit etwas mehr Glück würde auch der eine Rationscontainer ausreichen, der bereits im Hanger stand. Sie würde nur sehr ungern die restlichen Container hinein holen denn jeder Container, der bis zur Landung durch hielt erhöhte die Chancen, Probleme mit dem Anbau vor Ort zu überstehen. Dafür waren sie schließlich ursprünglich verladen worden. Mit Problemen schon während der Reise hatte niemand gerechnet. Sie sollte daran denken, eine Nachricht ab zu setzen und andere Kolonieschiffe zu warnen. Die Werften sollten ebenfalls informiert werden denn bisher hatte sie von einem solchen Fall nicht gehört.


Drei kleine Menschen standen vor einem großen Tiefraum-Container in Mitten eines großen, dunklen Hangars. Ein alter Mann mit Glatze studierte sorgfältig eine Ladeliste, ein kleiner Mann mit wirrem, grauweißen Haaren stand im Container und zerrte Kiste um Kiste hinaus und eine müde wirkende, schlanke, hoch gewachsene Frau nahm sie von außen entgegen und öffnete jede einzelne. Was sie vorfand, sorgte bei ihr nicht für überschwängliche Begeisterung.

Baumaterialien, Kleidung, kleine Maschinen, mit Öl zu betreibende Notstromaggregate und einige Brennstoffzellen. Solarpanele, und nur dann und wann mal eine Kiste voller Pappschachteln die mit 'Gewächshausbeläuchtung Klasse 1 - EN 195421-42c' beschriftet waren. Das mussten sie sein, aber es waren so wenige. Sie schätzte die Menge ab, es würde vielleicht für die Hälfte der Farm reichen. Wenn in einem der weiteren Container noch einmal so viele drin waren, dann würden sie die große Farm wenigstens versorgen können.

Marissa hoffte inständig, es würde auch etwas bringen. Sie hatte keine Möglichkeit zu bestimmen, wie lange die Pflanzen nun schon unterversorgt waren. Vor einigen Wochen war der Fehler das erste mal aufgefallen, als die Routineuntersuchung des Quartals fällig war. Zunächst wurde dem Befund nicht einmal große Aufmerksamkeit beigemessen. Man hatte es für einen Messfehler gehalten und den Test wiederholt. Erst, als der fünfte Test das gleiche Ergebnis gab wurde das Labor nervös und weihte die Farm ein. Marissa hatte zu dem Zeitpunkt schon den Verdacht, dass die Pflanzen erkrankt waren. Sie konnte die Produktivität beobachten und hatte die verkümmerten Früchte bemerkt. Es passte ins Bild, schon seit Monaten warf die Farm nicht mehr genug ab, um Überschüsse in die Kühlkammern im Innern des Schiffs ein zu lagern.

Wenn es also so lange gedauert hatte den Negativtrend zu identifizieren, wie lange würde es in die andere Richtung dauern? Selbst wenn sie alle Leuchten austauschen konnten, wie würden die hydroponischen Kulturen die Veränderung aufgreifen? Inzwischen saß sie schon wieder in der Biene um den nächsten Container ein zu holen. Sie nahm sich die Zeit, die Inventarliste zu aktualisieren und die verlorenen Container zu verzeichnen. Nur von der Biene aus konnte man den Schaden kaum abschätzen. Erst auf der Karte wurde deutlich, dass fast ein Drittel der Fracht an der Außenhülle verloren war. Die ersten Jahre in der neuen Kolonie würden sehr hart werden. Sie konnte nicht sagen, ob es ohne zusätzliche Hilfe überhaupt möglich war.


Emsiges Treiben erfüllte die Farm. Fast eine ganze Woche brauchten sie um die neue Beleuchtung ein zu bauen. Die Container hatten sowohl Erleichterung als auch Ernüchterung gebracht. Zunächst sah es so aus, als könnte nur jede vierte Lampe neu bestückt werden aber bald stellte sich heraus, dass sie fast auf der gesamten Fläche jede zweite Leuchte ersetzen konnten. Für Marissa war das eine immense Erleichterung und das, obwohl die Pflanzen unter den Höhensonnen der Krankenstation bislang kaum eine Veränderung gezeigt hatten. Es kam Marissa zwar so vor, als würde ihr Grün wieder etwas satter werden aber das konnte genau so gut am anderen Licht liegen. Außerdem hatte sie Angst davor, die zarten Blätter mit dem starken Licht zu verbrennen. Wenigstens diese Befürchtung sollte unbegründet bleiben.

Trotzdem beschloss Sie am Ende der Woche der Krankenstation einen Besuch ab zu statten. Die neue Beleuchtung zeigte zwar noch keinen durchschlagenden Erfolg aber darauf wollte Marissa nicht länger spekulieren. Frau Doktor Verdun schien nur auf sie gewartet zu haben. Als Marissa die Station betrat sprang sie gleich aufgeregt von ihrem Stuhl auf und winkte sie hektisch ins medizinische Labor. Der Tisch, der die Mitte des Raums dominierte war mit einer Isolierdecke abgedeckt unter die verschiedene Leitungen führten.

„Ich nehme an, Sie haben die Ersatzlampen wie gehofft gefunden?“ begrüßte sie Marissa. Als der Antwort ein Zögern vorweg ging war sie schon nicht mehr daran interessiert und sprudelte einfach drauf los.

„Wie dem auch sei. So oder so sind wir nicht völlig aufgeschmissen. Sie erinnern sich an die Theorie, Fleisch künstlich und in einer Nährlösung zu züchten? Der Gedanke, damit gegen die Nahrungsknappheit an Bord helfen zu können hat mich so sehr fasziniert, dass ich schon einmal angefangen habe die Thematik zu untersuchen. Ich habe Versuche mit unterschiedlichen Lösungen und Nährstoffpräparaten gemacht. Das beste Ergebnis hat dabei bislang eine wässrige Lösung erzielt, die zusätzlich elektrisch geladen und stimuliert wird.“

Triumphierend zog sie die Decke vom Tisch und gab den Blick auf einige Behälter aus klarem Plastik frei. In ihnen schwammen unterschiedlich große, unappetitlich aussehende, weiße Klumpen einer glibberigen Substanz. Marissa fand, sie sahen eher aus als würden sie sich zersetzen statt wachsen. Sie hatten auf der Farm einmal ein Problem mit Schimmelklumpen in den Nährlösungstanks gehabt. Das hatte damals gar nicht so anders ausgesehen, mit dem Unterschied, dass dies hier gewollt war und zum Essen gezüchtet wurde. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab und kitzelte ihren Würgereiz. Mühsam nahm sich sich zusammen. Wenn das hier tatsächlich essbar sein würde, wieso dann nicht? Und im Grunde genommen war es auch nicht unappetitlicher, als die Nahrungsergänzungskulturen aus der Wasseraufbereitung. Für einen Moment war Marissa besonders dankbar, dass das Geheimnis aus der Lebenserhaltung des Schiffs so gut gewahrt wurde.

Frau Doktor Verdun schob gerade vorsichtig einen etwas kleineren Behälter auf den Tisch, der hinter ihnen im Regal gestanden haben musste. Die Kultur in diesem war so weit gereift, dass sie das gesamte Gefäß ausfüllte und eine blass-rosa Farbe angenommen hatte. Es sah deutlich fester und nicht mehr so schwammig aus und verströmte einen Geruch, den Marissa nicht hätte benennen können. Das war also Fleisch. Fertig gewachsen aber noch roh. Soviel wusste Marissa, Fleisch konnte man essen aber vorher musste man es braten oder grillen. Sie selbst konnte sich nicht erinnern, jemals vorher schon einmal Fleisch auf einem Teller gesehen zu haben. In den großen Kolonien lebten Menschen, die tierische Nahrung aßen aber auch das nur sehr selten. Nutzvieh war sehr selten und nach seinem Tod nicht immer als Nahrung zu gebrauchen. Einige Kolonieschiffe der Flotte hatten wohl ein paar Tiere dabei, ihr eigenes Schiff aber nicht.

„Sagen Sie, Frau Doktor, woher haben sie denn die Spenderfaser? Sie meinten beim letzten Mal, es bräuchte eine Spenderfaser um den Vorgang zu initiieren.“

Frau Doktor Verdun sah betreten zu Boden und rieb sich ihren Arm. Auf einmal wollte Marissa die Antwort auf ihre Frage gar nicht mehr hören. Sie wünschte sogar, sie hätte sie sich nie gestellt. Wieder etwas, was es vor der Mannschaft zwingend geheim zu halten gab. Irgendwie erschien ihr das Ganz so falsch aber in ihrem Inneren wusste sie, sie würden darauf angewiesen sein.

Die Kapazität der Farmen war so angelegt, dass sie immer ein Zehntel Überschuss produzieren konnten. Im Augenblick erreichten sie gerade einmal die Hälfte dieses Werts. Selbst wenn sich die Pflanzen wieder erholen würden, es würde nicht genug sein, um die ganze Besatzung vollständig zu ernähren. Auf die Notrationen konnten sie sich eben so wenig verlassen und so blieb ihnen nur die Möglichkeit, den Ekel zu überwinden und ihr vegetarisches Dasein auf zu geben. Wenigstens würde wohl niemand verhungern.

„Ich muss zugeben, das hier sind immer noch nur Versuche. Es wird noch einige Zeit und einige Versuche in Anspruch nehmen. Sie haben einige Erfahrung im Umgang mit solcherlei Lösungen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir dabei zur Hand gehen könnten.“

Sie zauderte kurz, gab dann aber der Bitte der Doktorin nach und nickte. Mit Hilfe der Doktorin schätze Marissa ihre Möglichkeiten ab. Sie hatte inzwischen einen recht genauen Überblick über alle Vorräte und Rücklagen. In ihrem persönlichen Kalender hatte sie bereits für den nächsten Tag den Beginn der Rationierung vermerkt. Die Farm würde ganz bewusst ab dann weniger als benötigt ausliefern. Es würde Klagen und Beschwerden geben aber im Laufe der Zeit, da war sie sich sicher, würden die Leute sich ihrem Schicksal ergeben.


In den unmittelbar folgenden Wochen hatte sich auf der Farm eine leichte Verbesserung der Situation eingestellt. Die Pflanzen erholten sich ein wenig, wurden wieder grüner, kräftiger und fruchtbarer. Das geerntete Gemüse reichte zwar noch immer bei weitem nicht, bestand aber immerhin aus mehr als Wasser und Ballaststoffen. Die Rationierung dagegen rief ungeahnt heftige Reaktionen hervor. Die Leute sahen nicht ein, wieso das Mittagessen eingestellt und das Frühstück nur noch in abgespeckter Form ausgegeben wurde. Das das Abendessen wie gehabt beibehalten wurde war kein Trost.

Zunächst war da nur der Hunger. Immer und überall gab es nichts als knurrende Mägen. Die Leute wurden zunehmend gereizter und die Laune verschlechterte sich. Am Ende musste die Sicherheit sogar eine Ausgangssperre verhängen. In der Allee patrouillierten verstärkt mies gelaunte Sicherheitsleute die jeden an fuhren, der ihnen in die Quere kam. Die Tage zogen sich zäh dahin, Wochen erschienen den Kolonisten wie Monate. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich und das Bremsmanöver war noch nicht einmal gestartet worden. Trotzdem gingen die meisten tapfer weiter ihrer Arbeit nach. So gut sie eben noch dazu in der Lage waren. Die Zahl der Unfälle stieg merklich an.

Auf der Krankenstation wurde noch ein zweiter Aspekt deutlich mit dem in der Überflussgesellschaft niemand gerechnet hatte und an den niemand gedacht hatte. Mangelerscheinungen. Frau Doktor Verdun fand zwar in der medizinischen Bibliothek eine alte Anleitung, wie man Ersatzpräparate anfertigte doch dazu war es bereits zu spät. Die ersten Siedler verloren bereits ihre Zähne durch Skorbut. Die Ärztin dokumentierte alles peinlich genau und mit der Faszination des Abartigen. Fassungslos starrte sie auf die Bilder von den Geschwüren, die sich so schwer taten zu verheilen. Und immer fehlte es an irgend etwas. Nachfolgende Kolonieschiffe mussten unbedingt besser ausgestattet sein. Das vermerkte sie an jeder nur möglichen Stelle in ihrer Dokumentation.


Nach monatelangem Dröhnen war heute der große Tag. Das große Triebwerk war zum schweigen gekommen und nach einigen wohl berechneten Schüben fand sich das riesige Kolonieschiff im Orbit um seine neue Heimat wieder. Trotz der blauen, staubigen Kugel vor den Fenstern war die Stimmung an Bord eher angespannt. In den letzten Monaten standen die Siedler extrem unter Spannung. Sie waren gereizt, griesgrämig, streitlustig und vor allen dingen hungrig. Es gab Tage, an denen kam Marissa selbst kaum aus dem Bett. Aus dem Spiegel starrte ihr eine alt wirkende und doch junge Frau entgegen. Ihr eingefallenes Gesicht und die leeren Augen machten ihr Angst. Sie wollte sich selbst auf keinen Fall im Traum begegnen.

Marissa hatte ihr Bestes gegeben. Sie hatte die Lampen ausgetauscht, ersetzt, ergänzt und auf jede ihr mögliche Weise verändert. Die Pflanzen hatten es ihr nur dürftig gedankt aber immerhin ein wenig. Die Brücke hatte recht ungehalten auf die strenge Rationierung reagiert. Es war den Offizieren nicht zu verdeutlichen, dass man eine hydroponische Kultur nicht so einfach reparieren konnte wie einen Kühlschrank oder einen Reaktor. Für die Farmer war die Zeit besonders frustrierend. Egal was sie versuchten und wie viel sie arbeiteten, es wurde ihnen mit Verachtung gedankt. Mehr als einmal war der Mob drauf und dran, sie, oder wahlweise auch sich gegenseitig zu zerfleischen.

Die Ironie dabei war, das synthetische Fleisch wollte niemand anfassen. Es hatte Marissa und Doktorin Verdun einige Fehlschläge gekostet aber am Ende hatten sie doch noch diesen Rettungsanker aufbauen können. Fleisch aus dem Reagenzglas um die Hungersnot an Bord zu bekämpfen. Es war fast geschmacklos und von glibberiger Konsistenz, dafür aber ausreichend nahrhaft. An den Gedanken etwas zu essen, was von einem Tier oder Mensch hätte stammen können, konnte sich nur offensichtlich niemand gewöhnen. Sonst so kostbare Nahrung ließ man vergammeln. Dann sollten sie doch vor Hunger verrecken, dachte Marissa mehr als einmal in ihrer Verbitterung.

Die Verweigerung gegenüber dem Fleisch sorgte für eine erhöhte Nachfrage nach Notrationen. Vor zwei Wochen war der letzte Container davon an Bord geholt worden. Bisher waren sie um Todesopfer herum gekommen aber wenn dieser Container aufgebraucht war, dann konnte Marissa nicht sagen, woher sie noch Nahrung holen konnte. Wenigstens konnte der Mob ihnen bald nicht mehr gefährlich werden. Der Hunger verbrannte alle Kraftreserven, so dass die Besatzung bald eher wie wandelnde Leichen wirkte.


Mit Ellenbogen und mürrischen Gesichtern hatten die Siedler das Schiff zur Landung vorbereitet. In der allgemeinen Depression hatte niemand mehr ein besseres Leben auf dieser neuen Welt erwartet. Trotz allem arbeiteten sie gewissenhaft und präzise, nur eben etwas langsamer. Das vermeintliche Problem mit dem Triebwerksreaktor hatte sich als reine Vorsichtsmaßnahme entpuppt. Der Reaktor war in makellosem Zustand und bescherte dem Schiff eine glatte und problemlose Landung in einem weiten Tal. Die Gegend bot alles, was man sich Wünschen konnte. Fließendes Wasser, Bodenschätze und fruchtbare Erde. Sogar eine dünne Sauerstoffsättigung und ein hoher CO2 Anteil war vorhanden, genau wie die Sonden angekündigt hatten. Am Anfang würde den Meisten etwas schwindelig sein, aber sie würden sich gut daran gewöhnen können. Das Schiff war auf einem weitläufigen Hügel gelandet. Nah am See aber weit genug darüber, um auch bei einem starken Hochwasser trocken zu bleiben.

Eine der ersten Aktionen nach der Landung war es gewesen, die Farm zu öffnen und einige der Regale an die frische Luft zu holen. Es hatte einige Wochen gedauert aber trotz der fremden Bedingungen hatten sich die Pflanzen wieder erholt. Nach einem halben Jahr hatte Marissa ihre Farm komplett aus dem Schiff ausgelagert. Die Erträge genügten ihren Ansprüchen und sie war zuversichtlich, dass sie das nächste Jahr überstehen würden. Das mussten sie auch, denn mit der Landung hatten sie auch das letzte Paket der Notrationen vertilgt. Sie hoffte nur, es würden nicht zu viele Kinder geboren werden.

Marc und Jeb hatten ihren Handel mit den Tabakblättern nicht bereut. Am ersten Abend nach der Landung saßen sie selig wie die Kinder auf einem nahen Hügel und rauchten glücklich ihre selbst gedrehten Zigarren. Die einzigen, die es in der ganzen Kolonie geben sollte. Für die beiden war die Reise damit erfolgreich beendet.