Vorwort


Im Frühjahr 2013 habe ich etwas Zeit in Seattle, dem nordwestlichen Zipfel der USA verbringen können. Dabei habe ich die Stadt hauptsächlich zu Fuß oder zeitweise auch mit dem Fahrrad erkunden können und habe die ein oder andere kleine Kuriosität gefunden. Von diesem etwas anderen Wahrzeichen habe ich im Vorhinein bereits gehört und vor Ort danach gesucht.

Zwei Jahre später bin ich über eine kleine Randbemerkung in einem Nachrichtenportal gestolpert. Sie berichtete über die Reinigung der Gum Wall. Für mich Anlass genug, einmal nachzulesen, was es denn mit dieser Wand am Pike Place Market überhaupt auf sich hat.


Seattle Gum Wall


Seattle, im U.S. Bundesstaat Washington, verfügt über eine etwas andere Touristenattraktion. Die Gum Wall in der Post Alley. Gut versteckt zwischen, unter, hinter oder neben dem Pike Place Market (je nachdem, von wo aus man guckt) findet sich hier eine Wand, die über und über mit Kaugummis beklebt ist. Mit gekauten Kaugummis, wohlgemerkt.

Ich habe nur Erzählungen und Geschichten von der legendären Gum Wall gehört, ehe ich 2013 selbst in Seattle war, und ich konnte mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen. Kaugummis auf dem Boden der Fußgängerzone kennt man ja, aber an den Wänden? Ein Blick kann ja nicht schaden.

Was mir als Erstes auffiel, war, wie schwer dieses „Wahrzeichen“ zu finden ist. Die Post Alley liegt etwas abseits der Straßen und ist wirklich nur eine schattige Gasse durch die Hinterhöfe. Vom Markt aus kommt man über eine Treppe dort hinab und erwischt man den falschen Torbogen, findet man sich statt in einer feuchten Unterführung in einem gequetscht vollem Kram- und Postkartengeschäft wieder. Ich war am Ende von der anderen Seite aus erfolgreicher, wo sogar ein Schild auf die Gasse aufmerksam macht. Verblüffend ist, wie leicht man es übersieht, bedenkt man die Größe.

Und dann findet man tatsächlich eine Backsteinmauer und etwas, was wie der Hintereingang zu einer Kneipe oder ein sehr alternatives Theater aussehen könnte. Etwas zurückliegende Türe und daneben Fenster, die in den letzten zehn oder zwanzig Jahren wahrscheinlich nie geputzt worden sind. Das rote Backsteinmauerwerk tritt absolut in den Hintergrund, angesichts dieser Masse von kunterbunten Kaugummis, welche daran kleben. Es reicht ein Blick, um zu verstehen, wie es dieses Kunstwerk in die Liste der „top 5 germiest tourist attractions in 2009“ in den USA schaffen konnte. Vielen Besuchern hat es nicht gereicht, einfach einen Kaugummi zu hinterlassen. Sie haben Herzchen oder kleine Schriftzüge daraus geformt oder es auch benutzt, um kleine Zettelchen mit Botschaften zu hinterlassen.


Seinen Ursprung findet diese Sehenswürdigkeit um 1993 herum, als Besucher des Market Theater die Kaugummis benutzten, um Münzen an dessen Außenwand zu kleben. Anfänglich wurden diese noch von den Theaterangestellten entfernt, doch spätestens, seit das Management des Marktes die Wand 1999 als Touristenattraktion deklarierten, gaben sie auf. Die letzte größere Reinigung lag zu diesem Zeitpunkt schon etliche Jahre zurück. Köln und Paris haben Brücken voller Schlösser, New York Graffitikunst, Los Angeles seine Promi-Imitatoren und Seattle halt eine Wand voller Kaugummi.

Damals, 2013, sah es auf jeden Fall beeindruckend aus und auf seine eigene Weise völlig skurril. Auf guten zwanzig Metern länge und so hoch, wie man halt reichen konnte, mal als kleiner Blobb, tropfend oder lang gezogen und zu Buchstaben und Zeichen geformt.

Und dann, im November 2015, gab die Marktleitung bekannt, das Kunstwerk zu entfernen. Das erste mal seit zwanzig Jahren rückten Hochdruckreiniger an und befreiten die Mauern von ihrem bunten Kostüm. Der Grund hierfür ist der Zucker in den Kaugummis. Er greift die Ziegel an und schädigt den Zementmörtel. In dem Versuch, der Erosion und dem Zerfall Einhalt zu gebieten, wurde vom 10. bis 13. November in hundertdreißig Arbeitsstunden über eine Tonne Kaugummi von den Steinen gekratzt. Kurz vorher hatte es noch den öffentlichen Aufruf gegeben, sich mit einem letzten Kaugummi und der Teilnahme an einem Fotomarathon von der Gum Wall in seiner bisherigen Form zu verabschieden.


„Die Wand ist wie die Kunst, die dahinter stattfindet, ständigem Wandel unterworfen, durch jene, die sich daran beteiligen.“ Den Offiziellen des Marktes war klar, dass jede Reinigung der Wand nur ein Neubeginn, auf keinen Fall aber ein Ende sein würde und sie behielten recht. Kaum war bekannt gegeben, dass die Wand gereinigt werden sollte, organisierte sich ein Flashmob unter dem Motto „Re-gumming the gum wall.“ Die Marktleitung hatte sich in ihrer Ankündigung neugierig gezeigt, in welcher Form das Kunstwerk neu entstehen würde. Das Ergebnis hatte dann aber keiner erwartet.

Am 13. November, dem Tag, an dem die Reinigung abgeschlossen war, erschütterten Explosionen das viele Tausend Kilometer entfernte Paris. Der Donner hallte nicht nur in Europa wider, sondern dröhnte selbst im jungen, weltoffenen Seattle. „Re-gum“ änderte spontan seinen Zweck und beschloss, statt etwas schrecklich Albernem und Sinnlosem lieber etwas Albernes aber wenigstens ein wenig sinnvollem zu tun. “Re-gumming” the gum wall – for Paris. Unter den ersten Kaugummis auf der neuen Gum Wall waren Kondolenzen und Botschaften für Paris. Sie entstanden, noch bevor die lokale Presse die Bilder der gereinigten Wand veröffentlichen konnte. Seitdem wächst sie wieder und es ist kaum absehbar, wie weit sie es diesmal schaffen wird, ehe die nächste Reinigung das historische Mauerwerk darunter renoviert.