Vorwort

Während eines großen Einschnittes in meinem Leben hat mir meine Tante Gudrun den Auftrag gegeben, ihr eine Geschichte zu schreiben. Das Thema war „Mut“ und die einzige Vorgabe. Eines der Ergebnisse ist „Der Patient“, welches ich direkt begonnen und in einem Schub geschrieben habe. Sowohl das Thema als auch Handlung und Ort haben mich selbst sehr überrascht. Ich habe hauptsächlich deswegen geschrieben, um zu sehen, wohin es mich führt. Das Ergebnis hat in meinem Kopf eine wunderbar dichte Szene hinterlassen, die leider aus dem Text kaum hervor geht. Ich wollte der Geschichte aber auch nicht unnötig Fahrt rauben, indem ich seitenlange Umweltsbeschreibungen liefere. Lasse deinen Geist treiben, lieber Leser. Träume!


Der Patient

Doc Abby hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie im Regenwald einmal Staubwolken sehen würde. Wenn sie jetzt aber aus dem Fenster ihrer kleinen Station guckte, sah sie statt der weißen Nebelschwaden tatsächlich rote Staubwolken über dem Dschungel schweben. Ihre Station lag am Rande einer kleinen Stadt und hatte eine traumhafte Aussicht auf die grünen Hügel und Berge des Urwaldes. Auf der anderen Seite der Fenster hatte sie ihr Behandlungszimmer, das Lager und ein kleines, halbwegs improvisiertes medizinisches Labor. Das Lager war auch nur noch formal existent und diente lediglich als Abstellkammer für leere Kisten und Schachteln. Doc Abby sah ihr Lager gerne als Metapher für die kleine Stadt. Auch die Stadt war im Verlauf der letzten Monate immer leerer geworden. Wer es sich leisten konnte, der hatte schon vor einer ganzen Weile seine sieben Sachen gepackt und hatte die Region verlassen. Als die ersten Rauchsäulen am Horizont erschienen waren, wurden die verbliebenen Bewohner immer nervöser. Spätestens seit die ersten, entfernten Schüsse durch die Nacht peitschen und die ersten Verwundeten an der Station auftauchten gab es kein halten mehr. Wer einen Ort hatte, wohin er fliehen konnte, der floh.

Für Abby war das keine Option. Die Schottin war hier, um den Leuten zu helfen und immerhin gab es noch arme Seelen in der Stadt, die auf ihre Hilfe angewiesen sein könnten. Außerdem hatte sie seit Beginn der Kämpfe immer mindestens einen Patienten zur dauerhaften Pflege im Hinterzimmer. Sie selbst hatte kein Verständnis für Uniformen und Flaggen, genau so wenig wie für den ganzen Konflikt. Wieso kämpften sie denn? Worum? Um eine Handvoll dicht bewaldeter Berge? Keiner von den Uniformen und Lamettaträgern hatte eine Ahnung, was der Wald wert war, was für Schätze er barg. Sie selbst hatte einige Ausflüge in den Wald unternommen, einige seiner Wunder erleben dürfen, hatte aber selber kaum eine Vorstellung davon, was es dort noch zu entdecken gab. Um so mehr ärgerte sie sich über die Zerstörung, die mit den Kämpfen einher ging.

Ahmed erinnerte sie wieder daran, weswegen sie hier war. Er trug seine Tochter im Arm, wie schon die ganze Woche. Jeden Tag brachte er sie zur Station in der Hoffnung, Abby könne irgendetwas gegen das Fieber tun. Abby würde der Kleinen so gerne helfen, aber ihre Vorräte waren erschöpft und die Hoffnung auf neue Lieferungen hatte sie längst aufgegeben. Für die Dauer des Krieges würde ihr Lager leer bleiben. Sie bemühte sich dem Mädchen mit Umschlägen und Kräutern zu helfen. Auch wenn es offensichtlich etwas half, Abby hatte das Gefühl, die Dankbarkeit die in den Augen von Vater und Tochter leuchtete nicht verdient zu haben. Sie hätte ihnen lieber eine Garantie gegeben, dass sie wieder gesund werden würde.

„Sie können nicht hier bleiben, es ist gefährlich. Bald werden die Milizen hier sein und alle umbringen oder verschleppen.“ Aus Ahmeds stimme klang weniger Undankbarkeit als vielmehr ernsthafte Sorge um sie. Er hatte im Bürgerkrieg seine Frau und drei Söhne verloren und war danach mit seiner Tochter aus der Hauptstadt geflohen. „Wenn Sie Menschen retten wollen, dann bringen Sie sich in Sicherheit. Wenn sie tot sind, können Sie das nicht mehr.“

Der Gedanke war ihr auch schon gekommen und gelegentlich sah sie sich auch auf einen der Flüchtlingskonvois aufspringen aber die Arbeit hielt sie immer zurück. Hier konnte sie noch etwas bewegen. Sie hatte schon Kämpfer von beiden Seiten gleichzeitig in ihrer Pflegestation gehabt und beobachtet, wie aus der anfänglichen Feindschaft die empfindliche Saat von Freundschaft und Vertrauen gekeimt war. Wenigstens die Feindschaften wurden begraben, wenn man tagelang allein in dem stickigen Raum lag. Abby musste immer lächeln, wenn sie sich an solche Situationen erinnerte. Ahmed sah sie zweifelnd an, als sie kichernd den Kopf schüttelte.

„Ich weiß, Sie meinen es nur gut mit mir, Ahmed, aber mein Platz ist hier. Sehen sie sich nur um. Es gibt so viele Leute hier, die meine Hilfe brauchen können. Auch wenn ich Denosh mit ihrem Fieber kaum helfen kann, es gibt so viel zu tun hier. Jeden Tag kommen neue Patienten und es werden immer mehr. Ich wünschte nur, es würden auch neue Medikamente und Ausrüstung kommen. Ich könnte sie mehr als gut gebrauchen.“

„Sie haben viel von den Alten aus den Dörfern gelernt. Sie wissen um die Heilkräuter aus dem Wald aber dieses Wissen wird verloren gehen, wenn Sie sinnlos sterben.“ Seine Stimme wurde flehend. Die Sorge in seinen Augen war Verzweiflung gewichen. Abby streckte sich, um ihre sommersprossige Hand auf seine tiefschwarzen Schultern legen zu können.

„Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich mag vielleicht eine kleine Frau sein, aber ich bin nicht so leicht unter zu kriegen, wie man meinen mag. Ich werde zurechtkommen. Wenn Sie Denosh morgen wieder herbringen habe ich vielleicht ein Mittel. Ich versuche es gerade aus einer Wurzel zu ziehen, die mir die alte Frau aus der Bäckerei gebracht hat.“

Ahmed resignierte. Er musste einsehen, dass der Doc schon viel länger hier ausgehalten hatte als so mancher Einheimische. Irgendetwas an ihrer Arbeit musste sie derart reizen, dass sie darüber jede Vorsicht vergaß. Für ihn war es eigentlich gut. Je länger sie hier war, desto länger konnte sie seiner Tochter helfen. Er nickte stumm, hob Denosh von der Liege hoch und drehte sich in Richtung der Tür. Das kleine Mädchen im Arm ging er langsam rückwärts, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß, den Blick fest auf die Türe gerichtet beziehungsweise auf das, was den Türrahmen nun ausfüllte.


Der gesamte Türdurchgang wurde von einem dichten, schwarzen Fell ausgefüllt. Kaum war Ahmed an der Wand zum Stillstand gekommen schob sich das Fell durch die Öffnung, bis ein ausgewachsenes Gorillamännchen im Raum stand, sich nervös umsah und krampfhaft die linke Schulter hielt. Doc Abby sah dunkles Blut zwischen den Fingern des Tieres durch sickern und klopfte in einer instinktiven Geste mit der Aufforderung, Platz zu nehmen, auf die Liege. Der Gorilla verstand, kam vorsichtig herum und ließ sich noch viel vorsichtiger auf das filigrane Gestell sinken. Sein Gesicht zeigte sichtliche Erleichterung, dass es sein Gewicht aushielt.

Unter seinen wachsamen Augen trat Abby an seine Seite. Er knurrte kurz, als sie seine gewaltige Hand von der Schulter nahm, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Dickes Blut verklebte das Fell rund um die Wunde, einem glatten Einschussloch. Sie betrachtete die Schulter von allen Seiten, eine Austrittswunde war nicht zu sehen. Wenn sie den Winkel des Einschusses richtig deutete, dann konnte kein Knochen verletzt sein und die Blutmenge schloss aus, dass eine größere Ader getroffen worden war. Sie musste also eine Kugel aus dem Oberarm eines Gorillas entfernen, der mindestens fünf Mal so viel wog wie sie. Sie überlegte, die Kugel einfach stecken zu lassen und die Wunde zu vernähen. Das Tier knurrte in Richtung seines Armes und sah Abby mit einem Blick an, den sie unweigerlich als bittend beschreiben musste. Er war einfach zu menschlich, wie er da saß. Allmählich zweifelte sie an ihrem Verstand.

Mit einem Seufzen sammelte sie ihre Ausrüstung zusammen. Unter dem aufmerksamen Blick des Affen und den fassungslosen Augen Ahmeds rasierte sie den Bereich um die Wunde, reinigte sie und spritzte ein wenig Betäubungsmittel, stets bedacht, ihrem Patienten laufend zu erklären, was sie tat und ihm gut zu zu reden. Als die Betäubung Wirkung zeigte, begann sie die Suche nach der Kugel. Sie fand sie, drückte ihm die Hand auf die Schulter und zog die Pinzette mit dem Geschoss unter grollendem Protest heraus. Als sie das blutige Metall hochhielt, fragte sie sich, wieso sie eigentlich so ruhig war. Angesichts des ungewohnten Patienten müsste ihr Herz schlagen wie von Sinnen. Stattdessen legte sie ihm nur das Geschoss in die Pranke, überließ es seiner Neugier und vernähte das kleine Loch. Sie hatte gelegentlich Schussverletzungen behandelt aber noch nie waren sie ihr so alltäglich vorgekommen.

Als sie den Verband fertig angelegt hatte, erschien ihr der Gorilla fast wie ein Kind, das vor ihr saß, mit einem Schmuckstück spielt, ein kleines Liedchen summt und die Beine baumeln lässt. Er begutachtete ihr Werk, betastete den Arm und den Verband, grunzte zufrieden und ließ sich von der Liege gleiten. Er nickte und hielt Abby die Kugel wieder hin. Sie streckte den Arm aus und nahm sie zurück. Sie an seiner Stelle hätte sie wohl auch nicht behalten wollen. Ein leichter Wind trug das entfernte Knistern von Schüssen über die Hügel. Der Gorilla knurrte die Hügel an und hüpfte auf die Tür zu. Plötzlich klang der Gefechtslärm gar nicht mehr so weit entfernt. Auch Ahmed erwachte aus seiner Schockstarre. Er war kreidebleich und deutete nur auf die Hügel vor dem Fenster.

„Wir müssen hier raus!“ raunte er. „Die Milizen sind schon näher als ich gedacht hätte. Wenn sie uns finden, sieht es düster aus.“

Der Gorilla war offensichtlich ähnlicher Meinung. Er war im Flur stehen geblieben und sah auffordernd zurück. Abby konnte nicht sagen, was es war, aber für sie war es eine deutliche Aufforderung an sie, ihm zu folgen. Sie griff nach dem Notfallrucksack neben der Tür. Darin befand sich eine medizinische Feldausrüstung für jeden erdenklichen Notfall und sie trug ihn immer bei sich, wenn sie ihre Station verlassen musste. Der Gorilla registrierte ihr Handeln und setzte sich wieder in Bewegung, Ahmed folgte den Beiden, seine Tochter nach wie vor in den Armen.

Kaum hatte der Affe das Gebäude verlassen, steuerte er zielsicher ein Gebüsch an. Abby zweifelte nicht so sehr daran, dass er seinen Weg kannte als daran, dass das dünne Blätterwerk als Versteck taugte. Trotzdem folgte sie ihm und plötzlich war ihr bewusst, wie nah der Wald überhaupt war. Wohin sie auch blickte, es war kein Anzeichen menschlicher Zivilisation zu entdecken, nur Blätterwerk. Ungelenk stolperten die zwei Menschen durch das Unterholz, stets bemüht Schritt zu halten. In dieser Umgebung aber waren sie nicht heimisch, es war die Welt der Tiere. Der Gorilla verschwand immer wieder außer Sicht, wartete aber hinter ein paar Zweigen und Blättern immer geduldig auf sie. In seinem Blick lag dabei immer etwas wie Mitleid. So zogen sie weiter durch den Dschungel und Abby hatte längst aufgegeben, ihren Weg zurück verfolgen zu wollen. Jeder Busch sah für sie aus wie der Andere, jeder Baum wie der Letzte. Sie konnten überall und nirgends sein. Für Abby machte es keinen Unterschied mehr. Sie hatte sich völlig ihrem Patienten ausgeliefert.

Zu allem Überfluss tat der Regenwald inzwischen auch genau das, was sein Name versprach. Er regnete. Und wie es im Regenwald so üblich ist, gab es keinen europäischen Nieselregen, sondern einen ausgewachsenen Platzregen. Binnen kürzester Zeit waren sie alle nass bis auf die Haut. Der Wald hatte sie verschluckt, es regnete und Abby fühlte sich wie ein leichtsinniges Kind, welches einer streunenden Katze so lange nachgelaufen war, bis die Katze über einen Zaun verschwunden war und das Kind alleine im unbekannten stand. Ahmed hatte ihr zwar geraten die Stadt schnellstmöglich zu verlassen aber sicherlich nicht so. Allein die Tatsache, dass auch er mitsamt Denosh im Arm ihnen noch folgte hielten sie von dem Glauben ab, den Verstand verloren zu haben. Er war doch immerhin einheimisch. Dass auch er keine Ahnung vom Wald hatte und sein Leben lang in der Stadt gewohnt hatte schob ihr Unterbewusstes bewusst beiseite.


Es hatte zu Dämmern begonnen. Der Regen hatte nachgelassen und Abby taten die Beine weh. Ihr tierischer Führer hatte ihnen nicht all zu viele Pausen gegönnt, gleichzeitig aber dafür gesorgt, dass sie immer Schritt halten konnten und sich nicht verliefen. Eine Zeit lang hatte sie noch entfernte Schüsse durch das Blätterwerk gehört, seit einigen Stunden aber war davon kein Ton mehr zu hören. Jetzt schien der Gorilla sich seinem Ziel langsam zu nähern. Immer wieder hielt er inne um einen Ast zu begutachten, an einem Baumstamm zu schnüffeln oder an einigen Blättern zu kauen. Irgendwann ließ er sich schlicht in einen größeren Busch fallen und begann die Zweige zu biegen und zu flechten. Rund herum erwachte der Regenwald zum Leben und Abby stellte fest, dass die Bäume rund herum besetzt von Gorillas waren. Sie waren überall, sie kamen quasi aus dem Nichts und es waren viele. Niemand schenkte den Menschen besondere Aufmerksamkeit. Sie wurden zur Kenntnis genommen und dann baute man weiter. Es dauerte einen Moment bis Abby sich erinnerte und begriff, dass sie sich Nester für die Nacht bauten. Wenigstens für heute war die Reise zu Ende.

Abby suchte sich nun auch ein möglichst weiches Büschel Blätter und versuchte es sich bequem zu machen. Ahmed sah sie irritiert an, wie sie da saß und Blätter zusammenfaltete. Er konnte es nicht fassen, wie stoisch sie ihr Schicksal annahm. Noch vor einigen Stunden hatte sie sich geweigert ihre Station zu verlassen und plötzlich standen sie beide mitten im Regenwald, fernab jeglicher Zivilisation, mit einem fieberkranken Kind. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Denosh überhaupt nicht mehr heiß war. Ihre Haut fühlte sich ganz normal an, genau genommen sah sie einfach wie ein schlafendes Kind aus. Er begab sich zu Abby zwischen die Gorillanester. Sie nahm ihm das kleine Mädchen aus den Armen und untersuchte sie flüchtig. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte sie sie dann in das frische Nest.

„Sie ist auf dem besten Weg der Besserung. Der Regen hat das Fieber herunter gekühlt und es scheint nicht wieder zu kommen. Jetzt muss sie sich erst einmal gut ausschlafen, bis morgen wird nichts Großes mehr passieren.“

Ahmed war zwar skeptisch, akzeptierte ihr Urteil aber. Wenn selbst die Doktorin sich mit der Situation anfreunden konnte, dann musste es ihm doch leicht fallen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen sich Sorgen zu machen, vor morgen früh würden sie nichts unternehmen können. Zwischen den großen Affen kamen sie sich vor, wie ein gut geschützter Teil der Familie. Abby fühlte sich an die Urlaube bei ihrem Großvater in Irland erinnert, wie sie mit ihm an der Küste gezeltet hatte. Hier fehlte das Zelt oder war einfach um ein vielfaches größer. Wenn sie es recht bedachte, dann war der Wald selbst eigentlich wie ein großes Zelt. Sie musste schmunzeln und beobachtete die Gorillas, wie sie ihre Kinder in die Nester riefen und einer nach dem Anderen zur Ruhe kam. Die Nacht brach herein, und obwohl um sie herum der Dschungel zum Leben erwachte und regelrecht explodierte, fielen sie alle drei in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Auch wenn Abby gerne die Ruhe genossen hätte wusste sie, wo Tiere lärmten, da war der Krieg weit weg. Selbst Ahmed, der seit Monaten in Angst vor dem Krieg lebte, fühlte sich wirklich sicher und geborgen.